So denke ich. So bin ich

2.te Kapitel. Meine Reise von Ortenburg nach Lindau (Bad Birnbach-Eggenfelden)

von Sonja Hupperich | 04. Oktober 2021

Der 3te August – Bad Birnbach -Brombach – Pfarrkirchen – Linden – Eggenfelden – Attenham

Bevor ich mich mit meiner Kiste auf den Weg machte, deckte ich mich in der Bäckerei, die eher so etwas wie ein Kolonialladen ist, mit zwei frischen Brötchen, einen frisch gezapften Coffee to go, zwei Flaschen Wasser und einer Packung Zigaretten ein. Samt Feuerzeug. Eigentlich hätte ich ein schlechtes Gewissen haben müssen. Hatte ich aber nicht und steckte mir bei der Abfahrt direkt einen Glimmstängel an. Im Freiflug und mit einem tiefen Zug Nikotin, überquerte ich die Hauptstraße und fuhr auf dem Radweg Richtung Rott. Ich probierte aus, ob ich auch „freihändig“ fahren konnte. Supi. Das funktionierte. Ehrlich gesagt, ist das auch nicht schwer, wenn man drei Räder und eine Kiste hat.

Die Nebelschwaden verabschiedeten sich und die Sonne bohrte ihre Strahlen geduldig durch den morgendlichen Dunst.

Bad Birnbach ist für Radfahrer ein Eldorado. Gerade das ältere Klientel und Familien mit Kindern kommen auf ihre Kosten. Die Fahrrad-Wege sind breit angelegt. Eine große Grasnarbe trennt den Radweg von der Straße. Sicher und absolut ungefährlich. Von Lengham/Campingplatz in die Therme Bad Birnbach ist es nur ein Katzensprung. Das Städtchen Bad Birnbach lädt zum Verweilen ein. Urige Gasthäuser im traditionellen Stil. Lecker Schmackofazen in diversen Biergärten. Shoppen für die Lieben zu Hause oder für sich selbst. Dirndl, Charivaris, bayerische Keramik und wunderschöne Dekoartikel aus Bayern lassen die Herzen für Nieder-Bayern höherschlagen. Die Therme ist jedes Jahr ausgebucht. Einige Kilometer weiter Richtung Passau befindet sich der größte Golfplatz Europas. Herr Becker und Herr Beckenbauer verstecken sich schon mal gerne in den Golfkuhlen Bad Griesbachs und vermitteln die Dekadenz vergangener Zeiten.

Die Hinweisschilder mit dem grünen Fahrrad, sprangen mir alle 500 m ins Auge. „Rottalweg“ konnte ich lesen. Das war meine Richtung. Man konnte sich unmöglich verfahren. Ich schaffte es trotzdem. Nach 10 min. landete ich in einem Gewerbegebiet. Rottalweg links abbiegen, Richtung Bayerbach. Fragezeichen???. Mein Focus lag auf Pfarrkirchen. Ich drehte in diesem fürchterlichen Industrie-Karree um und hatte im nächsten Augenblick einen wunderbaren Blick auf die Pfarrkirche Maria Himmelfahrt. Sie thront auf einem Hügel und blickte mich und die Stadt Bad Birnbach liebevoll an. „Ja, liebe Kirche. Ich werde vorsichtig fahren. Das habe ich meinem Schatz versprochen.“

Bad Birnbach

Um den Blick noch etwas zu genießen, biss ich herzhaft in eines meiner Brötchen, schlürfte in aller Seelenruhe meinen Caffee to go und ließ diese Minuten einen „guten Mann“ sein.

Zickizacki Hühnerkakki. Jetzt aber hurtig! Es war bereits kurz nach zehn. Meinem Schatz hatte ich noch fix eine Nachricht zukommen lassen. >> Bin schon auf dem Weg. Kannst den Ausweis heute Nachmittag vorzeigen. Melde mich. <<

Ah. Endlich ein Schild, das den Fahrradweg nach Pfarrkirchen auswies. Es ging durch einen Park vorbei an kleinen Fischweihern. Der Damm führte mich in einen Wald. Rechtsseitig passierte ich eine urige Holzbrücke, auf der ein Liebespärchen stand und sich innig küsste. So früh morgens? Einige Meter weiter prangerte mir eine Infotafel entgegen. Rottal-Fahrrad-Weg und Wanderwege. Grüne, gelbe, schwarze und rote Linien schlängeln sich auf diesem Schild. Ich blickte nicht durch und fuhr ohne Info weiter. Auf diesem aufgeweichten Boden ließ es sich ziemlich schwer treten. Der Akku half nicht wirklich weiter. Also trat ich mit aller Kraft in die Pedale. Die Luft im Wald war erfrischend. Auch hier hatte die Sonne schon kleine „Glitzertropfen“ verteilt. Ich empfand es noch kühl. Wusste aber, dass mich heute die Sonne in ihrer besten Laune begleiten würde. Schließlich bin ich auch ein Sonnenkind.

Ola. Ein riesiges „Kanalisations-Rohr“ tat sich vor mir auf. Verwuchert mit Efeu und Brombeeren. Wo waren die Zwerge?  Ich stand auf einem kleinen Hubbel und konnte in das Loch hineinschauen. Eine Durchfahrt. Ah! Mit meiner Kiste könnte das eng werden. Durch die Öffnung passte gerade mal ein Mensch mit schiebendem Fahrrad. Hintereinander. Ich musste warten, bis die Schlange von drei Damen aus dem Tunnel herausgekrochen war. Jetzt. Ich ließ mich den kleinen Berg hinabrollen. Ab durch die Mitte!! Jeah!!

Verwunschener Tunnel

Stopp!! Bremsen! Schliddern. Scheiße! Anhalten. Gerade noch einmal gut gegangen. Puh! Im letzten Augenblick kam ich auf der anderen Seite der Röhre, vor einer Passantin mit Rad zum Stehen. „Entschuldigung“, japste ich der Dame entgegen. „Ich habe sie nicht gesehen! Das Rohr ist total verwachsen!“ „Das macht nichts. Es ist nichts passiert.“ Ich nickte ihr dankend entgegen. „Ich habe sie grade schon auf der anderen Seite des Tunnels gesehen. Deshalb bin ich stehen geblieben. Ich finde ihr Fahrrad so großartig!“ Ich entspannte mich. Ein lachendes Gesicht, lädt mich eh immer zur Konversation ein.

„Ich hatte auch schon überlegt, mir ein Lastenrad zu kaufen,“ versicherte sie mir. „Mehr als fantastisch!“ antwortete ich. „Mit diesem Teil rumzufahren ist echt cool.“ Wir unterhielten uns über Lastenräder und deren Hersteller. An Erfahrung konnte ich nicht viel weitergeben. Ich hatte grade mal 86 km mit diesem Vehikel hinter mich gebracht und von anderen Lastenräder oder deren Hersteller nicht ansatzweise Ahnung.  „Vor allem ist es superpraktisch. Man kann alles in die Kiste schmeißen. Und gut is`“. Diese Info war zumindest die, die ich ruhigen Gewissens weitergeben konnte. Wir schwenkten das Thema um. Lustig war, dass Andrea genau daherkam, wo ich hinwollte. Aus dem Allgäu. Das war „der Lacher“. „Was treibt dich denn nach Niederbayern, wenn das Allgäu viel mehr zu bieten hat?“ „Das Klima und die Ruhe. Bei uns ist doch alles total überlaufen!“ „Mein Ziel ist Lindau,“ gab ich als Auskunft. „O, Gott. Da ist gerade Gartenschau. Alles zu!“ Irgendwie schien mein Gesichtsausdruck Bände zu sprechen. „Na, so schlimm auch wieder nicht.“ Sie gab mir den Tipp, mich nicht in die Menge zu werfen und stattdessen den herrlichen Lindenhof-Park anzusehen. „Der ist unfassbar schön. Ein Unternehmer aus vergangen Zeiten hat ihn angelegt. Muss ein sehr reicher Geselle gewesen sein. Aus seinen Auslandsreisen brachte er fremdländische Botanik mit und sorgte dafür, dass diese Pflanzen eine neue Heimat auf seinem irrsinnig großen Grundstück in Lindau gefunden haben. Das lohnt sich. Diese Info ist aber nicht für „Ausländer“ gedacht“, fügte sie mit einem Augenzwinkern dazu.

Unsere Unterhaltung kam in Fahrt. Wir redeten über Überschwemmungen, Corona, Seelenwanderungen, Schicksal, Fügungen, Glauben, Familie und Kinder. Wir vergaßen die Zeit. Der Wald, der uns umrahmte, das Vogelgezwitscher und das Rauschen der Rott ließ uns in einer anderen Dimension verweilen. Wir schalteten einfach ab. Wir schwebten in einer autarken Blase.

Bis der „nette Herr“ mit dem E-Bike bei uns anhielt: „Hey Mädels“, grinste er uns schelmisch an. „Wisst ihr eigentlich, dass ihr hier schon über eine Stunde steht und quatscht!“ Fragezeichen. Ich schaute reflexartig auf mein Handy. Andrea lächelte entspannt. „Wirklich? Die Zeit ist ja ziemlich schnell verflogen!“ Sie lachte. Mir saß in diesem Moment die Zeit im Nacken. Wollte ich doch heute noch in Massing aufschlagen. Ein bisschen abrupt beendete ich unser Beisammensein. „Andrea, tut mir leid. Aber ich muss mich jetzt echt auf die Socken machen. Sonst komme ich nie in Lindau an.“ Ich schaute sie entschuldigend an. „Alles gut,“ versicherte sie mir. Ich händigte ihr noch meine Visitenkarte aus und setzte mich auf mein Dreirad. Der Herr hatte geduldig auf mich gewartet. Warum eigentlich?

Los ging´s. Im Windschatten des netten, grauhaarigen Herrn trat ich in die Pedale. Der Kies- und Waldweg führte entspannt und schattig an der Rott entlang. Das Flüsschen ist romantisch im Wald eingebettet. Zwischendurch warf mir der „Herr“ ein paar Sätze entgegen. „Nach Pfarrkirchen ist es nicht mehr weit! Ich fahre die Strecke jeden Tag hin und wieder zurück. Super easy.“ Ich hechtete dem „Menschen“ hinterher. Es war für mich unmöglich mit ihm Schritt halten. Er wiederum versuchte mich entspannt zu begleiten. Weit vor Pfarrkirchen, nähe Brombach, verließ er mich, hob verabschiedend die Hand und preschte in seinem gewohnten Tempo davon.

Puh! Noch so weit!!

Wo bin ich hier überhaupt? Ich hielt an. War ich doch blind hinter meinem „Begleiter“ hergefahren.

Den Wald und das Flüsschen „Rott“ hatte ich hinter mir gelassen und stand jetzt orientierunglos am Rand eines Wohngebietes. Ich war fünf Kilometer durch den Wald gefahren und freute mich jetzt über die Sonne, die golden vom Himmel schien. Schön warm. Der Wald hatte mich das Frösteln gelehrt.

Kurz nach elf. Fast halb zwölf. Ich studierte meine Papierlandkarte. Ah! Ich war in Untertattenbach. Ok. Der Rott-Fahrradweg führte ein paar Kilometer an der Landstraße entlang. Zwar parallel zur Straße, völlig sicher aber nicht meins. Die Lautstärke auf solchen Radwegen machen mir Angst. Das Positive war, dass dieser Weg ohne Hügel und ohne Kuhlen schnurstracks geradeaus führte. Der Akku summte und meine Beine strampelten fast ins Leere.

Bis zur Ortschaft Brombach. Ein riesiges, unprofessionelles Schild aus Pappe und behäbigen Text in schwarzem Edding begrüßt die Autofahrer mit der Aussage:

ORTSUMGEHUNG B 388. Wann Brombach? Jetzt.

Seit wir in Niederbayern wohnen, das sind mittlerweile zehn Jahre, steht das Schild unübersehbar an der rechten Straßenseite. Fuhren wir mit dem Auto Richtung Pfarrkirchen zum Shoppen, fühlte sich dieses Schild für mich immer an wie ein Mahnmal. Das Dorf ist grau. Tausende von Autos, Mopeds, Lkws schlängeln sich täglich durch dieses kurvige Nadelöhr. Eine Katastrophe. Ich fragte mich, warum hier nie etwas geschieht oder geschehen war!? Keine Veränderung, kein Grünstreifen und keine Menschen. Für mich sind Dörfer, die als Vorstadt agieren, oder das Tor zu einer wichtigen Stadt sind, ein Grund diese einladend zu gestalten. Da ist dem Bürgermeister wohl was unter den Tisch gefallen!

Nichtsdestotrotz führt genau mitten in Brombach der Rottal-Fahrradweg links weg und lässt das Grau und die damit verbundene Gedanken hinter sich.

Wups. Den kleinen Hügel runter und bremsen. Ich stand auf einer alten Brücke. Bremse arretieren und einen kleinen Schluck „Entspannung“ einatmen. Das Plätschern und der Fluss des Wassers beruhigten mich. Die Rott wird umsäumt mit Bäumen, Moos und glitschigen Baumstämmen. Mich streichelte eine kühle Brise, die vom kalten Nass emporstieg. Eine Augenweide, dieses Naturschauspiel. Leider leicht frostig, da ich im Schatten stand. Ich setze mich wieder aufs Fahrrad und strampelte weiter. Vorbei an Wiesen, goldenen Feldern, bepinseltem Mais und immer an dem Flüsschen Rott entlang. Ebenerdig. Der Radweg wurde liebevoll geteert. Diesen Radweg befahren viele Naturverbundene Menschen. Man braucht keine Kraft und nur wenig Akku. Mir kam in regelmäßigen Abständen ein ganzer Pulk von Ausflüglern entgegen. Mit meiner breiten Kiste hatte ich einige Male meine liebe Not auszuweichen, ohne in den Feldern zu landen. Ich sah das sportlich. Schließlich war ich gut gelaunt.

Die Sonne stand hoch am Himmel. Es war unglaublich warm. Ich schwitzte.

An einer Böschung stand eine einladende Bank. Ich machte Pause. Setzte mich, lehnte mich entspannt zurück, drehte mein Gesicht Richtung Sonne und schloss die Augen.  Mit geschlossenen Augen konnte ich meinen Körper spüren und fragte mich, warum mir mein Knie schmerzte. Ich setzte mich wieder auf und ignorierte erfolgreich das Zwacken. Wasser trinken, Brötchen essen und eine Zigarette quarzen. Was gab es Schöneres als diesen Augenblick? Von mir aus konnte die Kisten-Fahrt immer so weiter gehen. Gerade aus, ohne Steigung und mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 km/h. Genial! Vielleicht wäre ich dann schon einen Tag früher in Lindau! Bei dieser Vorstellung gluckste mein Herzchen. Da würde mein Mann aber staunen!

Ich fuhr keine 100 m. Da versperrte mir zwischen zwei Maisfeldern ein riesiges Ungeheuer den Weg. Grün und fett überquerte dieses Monster meinen Weg. Bremsen! Bremse arretieren. Absteigen. Wow!

Grün. Schreiend Grün. Mit kleinen zarten Härchen am Rückgrat. An der Innen- und Außenseite kleine schwarze Punkte. Am Kopf ein rotes Horn.

Eine Raupe. Mehrere Raupen!

Sag mir, wer du bist!

Unfassbar, dass es solche Geschöpfe in dieser Farbvariante überhaupt noch gibt!

Ich war fasziniert. Und ich schaute mir diese Raupe genau an. Was waren das für Tiere? So groß wie die sind, würden Vögel daraus entstehen! Wie würde aus so einer Raupe ein Schmetterling oder ein Falter werden können? Nachdem ich das Tier fotografiert hatte, beschloss ich bei der nächsten Möglichkeit direkt in „Google“ danach zu suchen.**

Nachdem ich mich von dem Schock der „Inversion“ erholt hatte, stieg ich wieder auf meinen Drahtesel.

Es ging beschwingt und heiter, im Sonnenschein und ohne Hügel bis nach Pfarrkirchen. Locker. Ich war stolz auf mich. Unabhängig davon, dass ich laut „Karte“ schon gestern hätte hier sein können. Das ritzte mich aber wenig. Ich schlängelte mich an Pfarrkirchen vorbei. Richtung Eggenfelden.

 

Der Rottausee wartete auf mich. Eine Steigung von 20 % musste ich noch überwinden. Eine knackige Kuppel. Bremsen, absteigen, 1,2,3 Schritte schieben.  1,2,3 Schritte schieben…Menschen, die mich sahen, hatten mitleidige Blicke für mich übrig. Damit musste ich mich wohl in Zukunft abfinden. Jede Steigung über 5 % überstieg meine Fähigkeit und die des Akkus meines Rades. Ich sah es locker. Heute war ein schöner Tag.

Da lauerte er schon. Der Rottausee! Auf dem Deich hatte ich einen wunderschönen Ausblick auf den See. Er spiegelte sich im Sonnenlicht. Einige Pärchen hatten es sich am Ufer bequem gemacht. Freilaufende Hunde jagten sich gegenseitig friedlich. Auf dem See paddelten junge Menschen auf einem Surfbrett. Selbst ein Hund hatte gelernt, das Gleichgewicht zu halten und Spaß an dieser Art von Fortbewegung zu haben. Ich schlitterte mit meiner Kiste den aufgeschütteten Deich hinab und bremste 10 m vor dem Ufer. Die Bremsen quietschen im Kies und sprengten sportlich die kleinen Steinchen zur Seite. Ich arretierte die Bremse. Und ging die paar Schritte zum Seeufer. Herrlich!

Der See nahm mich gefangen. Ich setzte mich. Zum Verweilen. Nur um zu Beobachten. Eine Handvoll Erwachsener mit Hunden und Kindern hatten ihre Decken ausgebreitet. Die Stimmung total gechillt. Das Echo der Cliquen prallte an mir ab. Ich versuchte zu denken. Es funktionierte nicht. Mein Hirn war ausgeschaltet. Stattdessen streckte ich meine Füße aus und tauchte meine dicken Zehen ins Wasser. Ich hatte mich auf eine Abkühlung gefreut. Der See war warm wie meine Füße. An Abkühlung war nicht zu denken. Trotzdem genoss ich das Nass auf meiner Haut. Das Plätschern mit meinen Füßen hatte etwas Beschwingtes. Es machte mich stark und schenkte mir Kraft. Die andere Seite des Sees ließ meine Augen entspannen. Sonnenschein. Grünes Ufer. Schwimmende Enten. Kleine Seepuschel. Verwunschene bayerische Höfe.

Kraft tanken.

Entspannt.
Gechillt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und diese Kraft brauchte ich, als ich aufstand und beschloss weiterzufahren.

Bevor ich meine Beine über den Sattel schmeißen konnte, quatschte mich noch ein Pärchen wegen meiner Kiste an. „Wollten sie Eis verkaufen?“ Fragten sie mich mit einem verschmitzten Lächeln. Nein oder Ja? Mein Hirn regte sich. Liebend gern.

Ich erinnerte mich tatsächlich noch an die Zeit als ich zehn Jahre alt war. Damals kam regelmäßig der „Eiswagen“ an unserem Haus vorbei. Im Allgäu wohnten meine Eltern in einer neumodischen Siedlung. Ich kann heute noch fühlen, wie stolz meine Mutter damals war, weil wir einen Garten hatten. Wir wohnten zur Miete. In unserem Garten trafen sich ab und zu alle Kinder der Straße und wir spielten im Sommer „wer hat Angst vorm schwarzen Mann“. Meine Mutter baute damals geschickt Tomaten und anderes Gemüse an. Ich glaube, ich habe mal Ärger bekommen, weil ich sämtliche Früchte gemopst hatte. Auch die vom Nachbarn.

Auf jeden Fall freute sich mein Vater auf den Eiswagen. Es liebt Eis. Ein Lastenfahrrad der Sonderklasse, beschriftet mit bunten Eiskugeln und einer Preisliste kam der singende, italienische Eisverkäufer um die Ecke gesaust. Sonntags. Ohne Akku. Um dorthin zu kommen, wo wir wohnten, musste der Eismann-Fahrer schon einen ganz gemeinen Berg hochradeln. Ich glaube, das hat ihn nicht interessiert. Alle in der Siedlung warteten sonntags auf den Eismann. Die Umsätze des Verkäufers von damals möchte ich heute gar nicht wissen. Ich würde gerne das gleiche machen. Nur eben Retro, mit Akku, (ich würde den Berg niemals hochkommen!) supertolles und leckeres Eis und weniger Umsatz. Das würde ich in Kauf nehmen.

Hauptsache glücklich.

Ich radelte am See entlang. Die Sonne schlug metallisch gegen meinen Körper. Die verdunstete Luft des Rottauensees klammerte sich an meine Körperhärchen. Schweiß. Es fühlte sich an, als würde sich die Luft entladen wollen. Gewitter?! Ich ignorierte den Gedanken und das feuchte Gefühl.

Als ich den See hinter mir gelassen hatte, fuhr ich weiter an der Rott entlang. Kies und Schotter. Die Steinchen gaben Antwort auf meine entschlossene Fahrweise. Gerade aus und ab in die Pedale. Die Stadt Massing wartet auf mich. Hurra! Es läuft am zweiten Tag wie Schmitz Katz. Schnurr! Schnurr! Bis auf die schwüle und schwitzige Situation.

Da kam mir der Waldweg gerade recht. Der Wald spendete Schatten. Es wurde auf einmal verdammt kühl. Ich fror. Zum Glück verlor sich der Weg an den Waldesrand, bevor ich meine Jacke anziehen musste. Die Sonne wärmte mich wieder friedlich. Auf der rechten Seite tat sich eine satte, grüne Wiese auf. Manno man, was für eine gepflegte Fläche! Jeder Grashalm schien die gleiche Länge zu haben. Ein paar Trauerweiden schmückten dieses Bild und unterbrachen die weite Fläche mit ihren ausladenden Zweigen. Herrlich!

Dann die Schilder: „Betreten der Flächen, nur für Golfer gestattet!“ Ach, da war der Haken!

Dies war kein Park zum Entspannen und Relaxen, sondern ein Golfresort. Ich war auf einem Golfplatz gelandet. Ups! Der Radweg führte am Golfplatz von Hebertsfelden, in der Nähe von Eggenfelden, vorbei. Traumhaft. Ruhig und unbescheiden.

Das Schönste am Golfen ist für mich die unglaubliche Ruhe. Das kenne ich von Bad Griesbach. Dort sind Hunde erlaubt und ich drehe genau dort meine Runden. Entspannt und mit viel Ruhel. Ich selbst spiele kein Golf. Ich hatte es vor Jahren mit meinem Mann versucht, konnte aber keine gute Figur auf dem Platz abgeben und war völlig untalentiert was die Schlagfertigkeit anging. Mit meinem Schläger war ich mehr als überfordert. Vor allem lachte ich mich über sämtliche „Fehlschläge“ meinerseits kaputt. Es wurde laut auf dem Golfplatz. Darf man hier lachen?  Ball? Wie, wo, wann? Ich entschied mich für das Joggen und das Radfahren. Mit den Hunden gehe ich weiterhin gechillt über den Golfplatz.

Und trotzdem und gerade deshalb: Hier wird nicht geschrien, nicht gestritten nicht lautstark diskutiert. Hier wird nur geschlagen. Ein Handschlag auf zukünftige Geschäfte und Schläge ins Nirwana. Die Damen kutschieren ihre Caddys mit ihrem unschlagbaren Golfer Outfit über die geteerten Wege und produzieren Schlagzeilen im Dreivierteltakt. Alles in allem sehr gediegen und lautlos. Aber schlagkräftig.

Während ich mir Gedanken über das Verdrehen von Körpern, Schlagen der Golfer mit Schlägern und deren Gattinnen machte, trat ich weiter in die Pedale. Der Akku war noch halbvoll. Das hatte ich wohl dem Weg, der bisher nur geradeaus und ohne Hubbel war, zu verdanken.

„Sonni, hau in die Pedale! Du musst heute noch in Massing aufschlagen!“, sagte mein inneres Engelchen zu mir. „Jepp“, antwortete ich meinem kleinen, weißen Geist.

Und ab ging´s. Vorbei an dem unschlagbaren Golfplatz. Vorbei an der Rott, die sich sanft durch das satte Grün schlängelt. Die Sonne strahlte vom Himmel. Ich trat glücklich in die Pedale. Von Weitem hörte ich tiefes Brummen. Mit meinem Tempo konnte ich entspannt rechts und links schauen. Ich sah nichts. Ich konnte dieses Gedröhn nicht einordnen. Das Brummen wurde lauter. Komisch. Woher kam das Geräusch? Ich strampelte entspannt am Waldesrand weiter und musste rechts abbiegen. Radfahrweg. Ich fuhr geradewegs auf eine Brücke. Das Getöse wurde immer lauter. Ich konnte es unmöglich eruieren. Irgendwie störte dieses Geräusch meine Sinne. Ein Traktor? Ein Motorradfahrer? Es passte nicht in mein Bild von Ruhe und Entspannung.

Das Brummen wurde lauter und bevor ich mich versah, flog eine Cessna fingerbreit über meinen Kopf. Ola, die Waldfee! Ich zuckte. Was ist das denn für eine Kacke? Wo bitte, ist hier ein Flughafen? Lassen sich diese Menschen auf dem Golfplatz tatsächlich zu ihren geschäftlichen Rendezvous an Ort und Stelle einfliegen?

Dekadent. Manchmal muss es halt mehr sein.

Nachdem ich gemerkt hatte, dass das Flugzeug nicht auf meinen Kopf fallen würde, war ich erleichtert. Mein nächstes Ziel konnte ich weiterhin entspannt anpeilen. Der Vorort Linden Richtung Eggenfelden wartete in Kürze auf mich.

An der Straße entlang. Wieder mal. Ver-rückt für mich, dass Fahrradwege tatsächlich auf einer Bundesstraße ausgewiesen werden. Und trotzdem landete ich vor Eggenfelden im Vorort Linden auf einer gut geteerten Straße. Mit einer umwerfenden Allee. Ich bin kein Botaniker. Doch diese Bäume waren für meine Augen Gold wert. Die Weite erinnerte mich eher an das Mittelalter. Grün. Sissi lässt grüßen. Kein Verkehr. Trotz Landstraße. Es fehlten nur noch die flanierenden Droschken. Ich glaube, die Autofahrer haben überhaupt keinen Bock auf dieser Straße zu fahren. Radfahrer und Fußgänger, soweit das Auge reicht! Kein Autofahrer, der über 30 km/h fährt, wenn denn mal einer angefahren kommt. Es fühlte sich sicher und entspannt an. Ein Abschnitt meiner Fahrt, welcher mir sehr positiv in Erinnerung bleiben wird. Kinder auf ihren Rädern. Väter mit Anhängern, die ihre Kinder sicher durch diese Allee kutschierten. Mütter, die entspannt radeln. Ein Hallo und Servus. Augenkontakt. Friedlich.

Irgendwo stand mal ein Schild mit der Aufschrift „Biergarten 200 m“. Ich fuhr daran vorbei.

Die Allee ließ ich hinter mir. Zeitgleich schoben sich dicke Wolken vor die Sonne. Brr. Ohne strahlende Sonne wurde es für mich wieder frostig. Der Fahrradweg durch die Allee war für mich und mein Ross ein Geschenk gewesen. Locker flockig. Und mit wärmenden Sonnenstrahlen.

Ab jetzt hieß es: Sich warm treten. Meine Haarwurzeln auf den Unterarmen stellten sich in der Kälte auf.  Das konnte ich an der Wolkenformation fühlen und sehen.

Hau rein Sonni! Ich inspizierte den weiteren Verlauf meiner Reise.

Vor mir lag eine Kuhle. Eine Kuhle! Um Anlauf zu nehmen war so eine Senke ein echtes Geschenk! An der anderen Seite ging es den Berg hoch. Ein kleiner Berg. Optisch betrachtet.

Mittlerweile wusste ich, wie ich diesen zu nehmen hatte. Kuhle runterfahren. Jipieh! Juhuuu!  Auslaufen lassen. Runterschalten auf eins. Das Akku auf vier schalten und unfassbaren Schwung nehmen. Schwung hieß für mich: Trete durch! Leerlauf! Wie früher bei meinem Mofa! Warte auf den Widerstand und tritt in die Pedale, was das Zeug hält! Bis das Zahnrad greift und du den Widerstand spürst. Rein theoretisch hätte der Benzinmotor meines damaligen Mofas mich mit 6 km/h ohne Anstrengung den Berg hinaufbugsiert. Wenn Benzin im Tank gewesen wäre. Rhein theoretisch. Wunschvorstellung.

Meine Kiste war kein Mofa! Ich trat in die Pedale, was das Zeug hielt! Leerlauf!!! Treten! Auf den Widerstand warten und treten!!!!

Das glaub ich nicht! Auf der Hälfte des Berges kam ich wegen eines Widerstands zu stehen. Er bremste mich am Berg aus. Der Akku machte schlapp. Und ich auch! Abbruch. Bremse arretieren. Absteigen. Mit Schweißperlen auf der Stirn nach oben sehen! Mich erwartete ein gut situiertes Wohnviertel. Mit Gehweg und Fahrradweg nach oben. Toll.

Ich schob mit einer Affengeduld meine Kiste den Hubbel hinauf. 123 Schritte. Stopp. Bremse arretieren. Durchatmen. Noch einmal. 1234 stopp. Bremse arretieren. Durchatmen. Und noch einmal. 12345 stopp. Bremse arretieren. Durchatmen. Uppsala! Ich bekam fünf Schritte hin, ohne aus der Puste zu kommen. Genial. Ich freute mich wie ein Schnitzel. Fünf Schritte, während ich mein Gefährt das Berglein hochdrückte, waren schon echt enorm! So ging´s halt zwanzig Minuten. Schweißgebadet – mir war definitiv nicht mehr kalt – kam ich oben an. Durchatmen. Sich freuen! Und lächeln.

Ich hatte einen Berg bezwungen! Wenn auch schiebend und ächzend. Das machte mir nichts aus. Denn ich konnte auf der anderen Seite nach unten sehen. Ich schwang mich auf meine Kiste und hatte die kleine Tortur vergessen. Jetzt ging es mit 30 km/h den Berg hinab. Huuiiiih! Akku aus! Wind in den Haaren. Der Fahrradweg war breit genug und mir kam kein Mensch entgegen. Ich konnte meine Schatz-Kiste einfach laufen lassen. Was für eine wunderbare Belohnung für meine Strapaze. Wie früher. Als Kind, ohne Akku.

Ich landete vor einem Andreaskreuz. Die Schranken waren geschlossen. Ich weiß nicht, wie lange ich an dieser Schranke stand. Es sammelten sich einige Fußgänger, Fahrradfahrer und natürlich Pkws. Tschum, tschum, tschum rollte der Zug irgendwann mit lautem Getöse an uns vorbei. Die Schranken öffneten sich mit einem stahlrappelnden und kettenmäßigen Geräusch. Der Pulk von Menschen setze sich in Gang. Keine 20 m hinter der Schranke tat sich ein Verkehrskreisel auf. Autos, Lkws, Fahrradfahrer und Fußgänger. Ein wüstes und koordiniertes Durcheinander. Hier wusste jeder was er zu tun hatte. Aufpassen! Zebrastreifen für Fußgänger und Radfahrer. Straße für den Rest der Welt. Laut ist es. Da kann auch die Insel in der Mitte des Kreisels mit ihren ausladenden Pflanzen nicht viel Geräusche schlucken. Lieb gemeint.

Ich war überfordert. Was war ich doch für ein Landei!?

Ich schaute auf meine Papier-Landkarte. Die Navigation auf meinem Handy konnte ich nicht verstehen. Der Pfeil drehte sich ständig wie ein Kompass in die eine oder andere Richtung. Ich fuhr zweimal im Kreisel, bis ich einen Drehwurm hatte und bog dann, laut Papier-Landkarte Richtung Massing ab.

Es war kaum zu glauben! Als ich den Kreisel verlassen hatte und mich einem geschmeidigen Berg mit Kurve runterrollen ließ, landete ich auf einer ruhigen und fast unbefahrenen Landstraße. Raus aus dem Sumpf, rein in Richtung Industriegebiet.

Ich chauffierte mich durch Eggenfelden. Immer den Schildern lang. „Massing“. Gelbe Pfeilschilder mit schwarzer Schrift. Ich sehnte mich nach Natur. Dieses Stadtgebaren war mir mit meiner Kiste zuwider. Ab durch Industriegebiete. Rechts und links unansehnliche, innovative und zukunftsorientierte Firmen. Flachdachbauten. Billig und ohne Traditionen. Mach mal „Asche in die Tasche“ – Objekte. Schade und gruselig. Waren wir doch nach Bayern gezogen, um die Traditionen zu wahren und zu leben. Bayern ist einzigartig auf der Welt. Vor allem mit seinen wunderschönen Bauern-Höfen und seiner unverwechselbaren Landschaft.

Als ich in den nächsten Kreisel fuhr, löste sich der Verkehr auf. Ich war immer noch auf den Weg nach Massing. Der Radweg dorthin war auf der Landstraße ausgewiesen. Ruhig und ohne Verkehr. Tatsächlich. Es fing an zu fisseln. Ich hielt mitten auf der Landstraße an, verpackte mit der Abdeckung meine Kiste und zog mir meinen Friesennerz über. Ich schaute nach vorne und sah nichts anderes als einen grauen, verregneten Landstraßenweg. Kein Rind, kein Kind. Ok. Ich stieg wieder auf mein Metallobjekt und fuhr im Fisselregen die Landstraße entlang. 5 km!?

Ich fror. Wie ein Schneider. „Lieber Gott, bitte lass mich eine Bleibe finden!“ Bis nach Massing waren es noch über 10 km. Es war Spätnachmittag. In Neuaich, ein Weiler mit fünf Bauernhöfen, hatte ich die Schnauze voll! Der Regen hatte einen Pakt mit den Wolken geschlossen. Ich war völlig durchnässt. Mir war unfassbar kalt. Die Stimme meines Mannes schlug wie ein Meteorit in mein Hirn. „Wo willst du denn schlafen? Überleg doch mal. Du kannst doch nicht in der Wildnis campen?“ Genau danach war mir gerade. Einfach aufhören zu radeln und auf einer saftigen Wiese mein Zelt aufschlagen!

Manche Menschen machen sich sehr viel Gedanken darüber, was andere Menschen denken könnten, wenn man Dinge tut, die außerhalb der Norm sind, aber niemanden schaden. Ich hätte in diesem Moment schwören können, dass es kein Schwein interessiert hätte, wenn ich mein Zelt einfach auf so einer saftigen Wiese aufgeschlagen hätte.

Ich war müde, durchnässt und hungrig. Der Regen war mir zu viel. Die nasse Kälte auch. Die Sonne hatte mit mir kein Erbarmen.

Und auf einmal schlug das Glück schlug zu!

Ich fuhr über eine Kreuzung. Nichts Besonderes. Mehrere ältere Bauernhöfe standen rechts und links an der Straßenseite. Ein Weiler. Und eine Bushaltestelle wie vor 40 Jahren! Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Die Haltestelle war überdacht. Ein Bushalteschild. Gelb mit einem grünen Kringel und einem „H“ in der Mitte. Das Holz des Wartehäuschens hatte seine Jahre auf dem Buckel. Dunkelbraun und verwittert. Wetterfest. Ich stellte mich genau dort unter. Das Fahrrad hatte von der Länge her nicht wirklich Platz. Ich deckte meine Fahrradtaschen auf dem Gepäckträger mit einer gelben Plane ab, damit das Gepäck nicht völlig durchnässt wurde. Der Rest meines Rades stand trocken in dem Bushäuschen. Auch ich.

Der Himmel öffnete seine Pforten. Wahnsinn. Ich hatte so ein Glück! Bis zur Bushaltestelle war ich mit Bindfäden gefahren. Genau in dem Moment als ich in der Haltestellehütte stand, fing es an zu schütten. Wolkenbruch.

Diesen „Wolkenbruch“ habe ich gerade auch von meinem Verleger „erfahren“. Bedeutet: Nächstes Jahr wird mein Buch veröffentlicht (oder wegen Corona auch erst übernächstes Jahr). Ich solle mir selbst keine Konkurrenz machen. Irgendwie hat er recht. Der Verlag.

Bitte nicht traurig sein….. Schreiben ist in der Regel „brotlose Kunst“. So wie es halt der „arme Poet“ erlebt hat.

Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn ihr meine Geschichte in naher Zukunft in Eurem Bücherregal stehen hättet.

Tausend Dank für Eure Geduld. In Liebe Sonni

So denke ich. So bin ich

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