15. Januar 2022.
Mein Geburtstag! Ich war aufgeregt. Um 12.00 Uhr hatte ich einen Termin. Ich war spät. 11.40 Uhr. Ich flog mit Guido auf dem Arm in Windeseile aus meinem Appartement. Lief hektisch Richtung Hauptstraße, stellte mich wartend auf den Bürgersteig und blickte sehnsüchtig nach einem tunesischen Taxi. 10 vor 12. Mist, ich komme zu spät. Deutsche Pünktlichkeit. Für mich wie ein Virus. Selbst in Tunesien kriegt man den nicht los. Hier kommt man eher später oder gar nicht. Frei nach dem Motto: Gut Ding will Weile haben.
Ah! Endlich. Ich hob die Hand. Das Taxi stoppte abrupt. „Das funktioniert ja prima“. Das wird eine Jungfernfahrt! Ich war das erste Mal ohne Begleitung unterwegs. Ich öffnete die Autotür und stieg ein. Ein freundliches „Bonjour“ des Taxifahrers und ich versuchte mich in Französisch. Rue de la Corniche. Silteplait. Mist. Das ging schief. Ich spreche gar kein Französisch. Der Fahrer lächelte mich freundlich an und wiederholte mit bestätigten Blick den Straßennamen. Ich nickte. Puh, er verstand mich.
Bis zu meinem Ziel waren es ungefähr 5 km. Das hatte ich auf Maps eruiert. Eine kleine Odyssee. Ich „erfuhr“ ein kleines Abenteuer. Verkehrsregeln Fehlanzeige. Helme auf dem Mofa oder Motorrad Wunschdenken. Anschnallen wofür? Handy bedienen und Pkw durch den Verkehr manövrieren. Funktioniert. Muligespanne, frei laufende Hunde und Katzen, eine Herde Schafe, Fußgänger kreuzen, ohne Rücksicht auf Verluste, die Hauptstraße. Krass. Eine unkoordiniertes Gewusel. 15 min später kamen wir lebend auf der Rue Corniche an. 5 Dinar siteplait. Das sind noch nicht einmal 2 Euro für 5 km! Merci. Ich stieg mit meinem hechelnden Guido aus und blickte auf „mein“ Häuschen.
Entdeckt hatte ich dieses wunderbare Unikat vor zwei Wochen. Mein Mann und ich besichtigten eine Wohnung. Wir hatten uns in den Kopf gesetzt, ein kleines Urlaubsdomizil in Tunesien zu mieten, um preiswert Urlaub machen zu können. Zukünftig wollten wir regelmäßig in dieses atemberaubende Land fahren, um noch mehr über Land und Leute zu erfahren. Die Wohnung war leider ein Flop. Als wir nach der Besichtigung vor die Tür traten und uns von der Maklerin verabschiedeten, blickte ich auf ein Steinhäuschen. Meine Neugierde wurde geschürt. Typisch ich. da kleine Tontöpfe am Haus hingen und die Tür ein kleines Kunstwerk war. „Komm, lass uns mal schauen,“ forderte ich meinen Mann auf . Mein Schauen, verwandelte sich ins Fotografieren. Kleine Nickeligkeiten sprangen mir vor die Linse. Hier ein Pöttchen, dort ein Fensterchen, dort eine kleine Statue und ein Steinfisch aus weißem Stein auf dem Flachdach.
Die Tür öffnete sich.
Salem. Im Türrahmen stand der Herr des Hauses. Sein Gesicht strahlte Freundlichkeit und Neugierde aus. Ich kenne nur ein Wort aus dem Französischen, das meine Bewunderung für etwas ausdrückt. Manifique! Mit dieser Freude und diesem Wort sprach ich ihm meine Bewunderung für das Haus aus. Hatte ich Neugierde in den Augen? Tatsächlich lud uns der Herr ein, in das Haus hineinzutreten. Der Eigentümer lud uns tatsächlich spontan zu sich ein. Was ich sah, überwältigte mich. Jedes Detail in diesem Haus war mit Liebe behaftet. Dieses Gefühl schlug mir als allererstes entgegen, obwohl ich nicht alles überblicken konnte und wir etwas verloren in einem winzigen Flur standen. Der Bewohner versuchte, sich zu artikulieren. Französisch-Tunesisch. Keine Chance. Wir verstanden nur Bahnhof. Mit der Gestik konnten wir dennoch verstehen, dass er jemanden holen würde, der zwischen uns vermitteln würde. Wir warteten, bis er zurückkam und drehten uns in der Wartezeit langsam um unsere eigene Achse. Es fühlte sich an, wie eine visuelle Überflutung. Ich war überfordert. Fünf Minuten später hatte er einen jungen Mann im Schlepptau. Ismael. Er spricht sehr gutes Englisch. Wir bekamen noch größere Augen, als er uns erzählte, dass Herr Kamel jedes Detail in diesem Haus und das Haus selbst, mit seinen eigenen Händen gestaltet und gebaut hatte. Wir wurden voller Stolz durch das Schlaf-Wohn-Esszimmer geführt. Durch die Küche, das Badezimmer, die Stufen hinauf auf die Terrasse und in seine Werkstatt. Ich war sprachlos. Vor lauter Eindrücken, vergaß ich zu knipsen.
Wir wollten Herr Kamel nicht so lange aufhalten.
Wir merkten, dass unsere „Anständigkeit“, es nicht zuließ, die Gastfreundschaft so lange in Anspruch zu nehmen. Mein Wunsch war, typisch deutsch, einen Termin zu machen, mit der Berechtigung zum Fotografieren und einen Artikel zu schreiben. Ich hatte von meinem Blog und meinem zukünftigen Buch erzählt, sodass mir Herr Kamel durch Ismael vermittelte, dass ich herzlich willkommen sei und er sich sehr freue, dass ich über ihn schreiben würde.
Der Tag war da! 15. Januar 2022. Mein Mann war vor ein paar Tagen zurück nach Deutschland geflogen. Also, war ich auf mich alleine gestellt und hoffte, dass ich genug Informationen bekam, die ich vom Englischen ins Deutsche übersetzten konnte. Ismael hatte sich bereit erklärt, als Dolmetscher zu agieren. Als ich vor diesem Häuschen stand, hatte ich wieder das Gefühl, dass ich vor einem ganz besonderen Haus stand.
Herr Kamel öffnete freundlich die Tür. Er schenkte mir ein herzliches Lächeln und bat mich einzutreten. Er führte mich über die Treppe hinauf auf die Dachterrasse. Er bot mir mobilen Holzhocker an, der mit Rollen versehen war. Flexibel. Die runde Sitzfläche war mit rotem Tuch bespannt und zusätzlich zum Schutz vor Regen mit durchsichtiger Folie festgetackert. Kurz darauf stand Ismael in der Tür. Er hatte eine Begleitung mit gebracht. Haja. Haja spricht perfekt deutsch. Was war das denn für eine Sonne!? Ich konnte mich in Deutsch artikulieren! Wir verstanden uns auf Anhieb. Sie plapperte munter darauf los. In Deutsch. Sie ist Fremdenführerin in Hammamet und betreut sehr viele deutsche Touristen. Unabhängig davon spricht sie noch sechs weitere Sprachen. Durch Corona stagniert im Moment die Touristenbranche und so parkt sie ungewollt in der Warteschleife, bis Corona sich verflüchtigt hat. Wie so viele auf der Welt.
Herrn Kamel wurde im März geboren.
Anfang März. Laut Sternkreiszeichen ein kreativer „Fisch“. Sein Lächeln ist ansteckend. Er strahlt Glück und Zufriedenheit aus. Er ist mit sich im Reinen. Vor Corona war er ein leitender Angestellter in der Baubranche. Als junger Mann besuchte er das Gymnasium, absolvierte sein Abitur und entschied sich für eine Ausbildung in der Landwirtschaft. Irgendwann entschloss er für sich, dass das Bauen und Handwerkern ihn glücklicher machten. So wechselte er in die Baubranche. Vor zwei Jahren überrollte Corona den afrikanischen Kontinent, genauso wie den Rest der Welt. In vielen Branchen herrschte der Lockdown. Langeweile, Stagnation und Depression überschwappte die Welt mit einer riesigen Welle. Schlimmer noch, als das Virus selbst. Bei Herrn Kamel kam diese Welle zum Glück nicht an. „Wieso soll ich mich den ganzen Tag ins Café setzen, Geld ausgeben, auf bessere Zeiten warten, traurig sein und schlecht über das Virus reden?“ Er beschloss, zu arbeiten. Für sich. Für sein Glück. Gegen die Langeweile!
Er fing an, spazieren zu gehen. Schlenderte stundenlang am Strand entlang, streifte durch sämtliche Straßen und Parks. Überquerte unbebaute, sandige und besitzerlose Flächen. Seine Augen immer auf den Boden gerichtet. Dabei sammelte er Müll. Ja! Er sammelte alles auf, was die Menschen in die Umwelt schmissen. Treibgut, Eisen, Beschläge, alte Türen, Fensterrahmen, Porzellan, Metalle, Ton, Beton, Steine, Fliesenbruch, Fliesen, Backsteine, Schnüre, Werkzeuge, Marmorbruch und Stoffe. Unendlich viel Materialien. Denn auch Knöpfe, Schrauben und Nägel gehörten dazu. Seine unglaubliche Vision war, keinen unnötigen Dinar (Währung in Tunesien) für die Umsetzung seiner Idee auszugeben!
Also, fing er an sein Haus zu bauen. Mit Weggeworfenen. Mit Müll.
Eine fast zerfallene Garage, die ihm gehört, stand als „Gerüst“ zur Verfügung. Daran dockte Herr Kamel an. Was daraus entstand, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Zwei Jahre hat Herr Kamel gebaut, getüftelt und seiner Kreativität freien Lauf gelassen. Wenn Corona einen Vorteil hatte, war dieser Virus zugunsten von Herrn Kamel um die Welt geschwirrt. Als ich das erste Mal mit meinem Mann in diesem kleinen Schmuckstück sein durfte, schlug mir eine unendliche Liebe entgegen. Das bestätigt mich in meiner Ansicht, dass auch Häuser und Wohnungen eine Seele besitzen. Verbunden mit den Menschen, die darin wohnen. Jedes Detail wurde mit seinen eigenen Händen produziert und eingebaut. Er hat eine ausgeprägte visuelle Vorstellung. So verwertete er ein altes Nudelholz, welches die Geschichte seiner Trennung beinhaltete, in den Türstock der Eingangstür. Ein Fisch aus Stein, am First des Hauses, wurde von ihm liebevoll gemeißelt. Delfine sind seine Lieblingstiere und seine Glücksbringer. Eine alte Porzellan-Schüssel dient als Treppenknauf. Eine Sukkulente verbringt ihre Zeit in einem Bambusrohr, welches er am Strand gefunden hatte. Die Küche besteht mehrheitlich aus Holz, das ihm auf seinen Spaziergängen vor die Füße fiel. Die Kommode im Schlafzimmer und die rollbaren Hocker fielen sofort ins Auge. Als Antikfan und DIY-Liebhaber, schenkte ich den Schlafzimmermöbeln sehr viel Interesse. Der Boden, mit antiken Fliesen, ein Traum………
Er zimmerte, hämmerte, sägte, bohrte, meißelte, verlegte Fliesen, setzte Zargen, rührte im Mörtel und schwelgte in Ideen.
Jedes einzeln verbaute Teil, hat seine Geschichte. Der Mühlstein und das Bild „Der Esel“ sind Erbstücke seiner Eltern. Sie wurden liebevoll im Schlafzimmer in Szene gesetzt. Die Türen, mit Hingabe gezimmert. Die Decken mit Kraft verankert. Die Treppe und deren Aufgang sind ein Hingucker. Eine kleine Galerie der Familie, die Rahmen natürlich selbst gebastelt, führten zur Dachterrasse. Die Terrasse wurde von einem überdimensionalen Sonnenschirm überspannt. Knallrot mit Tunesischem Muster. Die Eisenkonstruktion, sorgte für Wind- und Sturmfestigkeit. Ein rollender Hocker wurde mir angeboten. Ich setzte mich entspannt unter den Schirm. Eigentlich hatte ich einige Fragen vorbereitet, die ich Herrn Kamel stellen wollte. Letztendlich hat er mit Wonne seine Geschichte erzählt. Jedes einzelne Stück am Haus, hat eine Bedeutung. Jedes Teil wurde gefunden und mit Liebe und Seele verarbeitet. Seine Ideen wurden mit jedem neuen Fund umgesetzt. So wuchs sein Haus. Es wurde in den letzten zwei Jahren immer größer. Immer schöner. Einfach fantstisch. Manifique. „Er ist noch nicht fertig“, sagte er. „Ich kann nicht aufhören. Jedesmal wenn mir etwas Schönes vor die Füße „läuft“, muss ich es verarbeiten. Mittlerweile wechsle ich auch einige Dinge aus. Manchmal, weil mir das Eine oder Andere nicht mehr gefällt oder weil mir eine andere Funktion sinnvoller erscheint.“ Das Haus ist im ständigen Wandel. In seinen Augen des wird es wohl nie perfekt sein. Mir fehlen die Worte.
Das perfekte Haus steht in Hammamet.
Für mich, ist es das schönste Häuschen, das ich je gesehen habe. Das mag einigen vielleicht „verrückt“ vorkommen. Allein die Hingabe und das Herzblut sind eine Liebeserklärung an die Erde. Die Königsdiziplin für Nachhaltigkeit. Seine Ideen und die Liebe fürs Detail sind unbezahlbar. Die Strömung, die dieses Haus durchzieht, lässt die ganze Welt so friedlich erscheinen. Ein zartes, starkes Gebäude mit Seele.
Als ich diesen Artikel schrieb, merkte ich, dass mir die Worte fehlten und ich nicht in der Lage war jedes einzelne Herzstück zu beschreiben. Ich bin einfach zu unpragmatisch. Herr Kamel hat mir mit viel Geduld jede seiner Arbeiten gezeigt, erklärt und vermittelt. Bautechnisch. Leider kann ich keine „Gebrauchsanweisungen“ aufs Papier bringen. So hoffe ich mit ganzem Herzen, dass ich Euch mit meinen Bildern ein Lächeln ins Gesicht zaubere und wünsche Euch viel Spaß beim Betrachten der Fotos.
Ganz liebe Grüße an alle, die sich diesen Artikel ansehen, wünschen Euch Ismael, Haja, Herr Kamel.
In Liebe Sonni
PS.: Kommentare, Meinungen, Fragen. Wir würden uns sehr freuen.